Das stille Wegdämmern

Jetzt ist Lina (Name geändert) gestorben, ziemlich überraschend. Ich kannte sie flüchtig, sie war jahrelang die Nachbarin meiner Schwiegereltern im oberen Emmental. Die letzten zwei Jahre verbrachte die betagte Bäuerin im Altersheim. Auch wenn die geistig rege und bis auf ein lahmes Bein weitgehend gesunde Frau natürlich lieber im Einfamilienhäuschen geblieben wäre, das sie und ihr Bruder seit der Pensionierung bewohnt hatten.

 

Verheiratet war sie nie, ihr Bruder auch nicht. Sie bewirtschafteten ein Arbeitsleben lang gemeinsam den ererbten Hof, dann verkauften sie ihn und erwarben dafür das hübsche alte Haus im Dorf meiner Schwiegereltern. Haus und Garten sorgten für ausreichend Beschäftigung.

 

Als der Bruder ins Altersheim musste, blieb Lina allein im Haus zurück. Ein paar Jahre später starb der Bruder in hohem Alter, kurz darauf kam auch sie ins Heim. Weil eines ihrer Beine definitiv nicht mehr mitmachte.

 

Mit dem Heim wurde sie nie recht warm. Ihre Verwandtschaft war klein und Besuche eher selten. Sie berichtete, das Essen sei halt schon recht knapp bemessen, und es werde nicht gut aufgenommen, wenn jemand um Nachschlag bitte. Auch das geistige Nahrungsangebot war eher schmal: In der Bibliothek gab es vor allem alte Förster- und Liebesromane.

 

Nachtruhe war schon um 19 Uhr. Man sagte ihr, das sei bei pflegebedürftigen Personen halt üblich, wegen des Schichtwechsels vom Tages- zum Nachtpersonal. Weil Lina in der Nacht manchmal aufmusste, setzte man ihr dauerhaft einen Katheter. Sie hatte keine krankhafte Blasenschwäche, aber eben: Wer die Nachtwache beansprucht... muss mit solchen Massnahmen rechnen. Auch Schlafmittel bekam sie. Kein Wunder: Um 19 Uhr kann ein Erwachsener meistens noch nicht einschlafen.

 

So verlebte Lina die Monate und dämmerte dabei zusehends weg. Unter dem strengen Corona-Regime litt sie stark, sie bekam in dieser Zeit noch weniger Besuch als sonst. Man darf es den Verantwortlichen nicht ankreiden: Welcher Heimleiter will schon den medialen Sturm aushalten, wenn auskommt, dass ausgerechnet sein Heim ein epidemischer Hotspot ist? Da würden Köpfe rollen.

 

Zuletzt ordnete man an, dass Lina Hosen tragen solle. Aus welchem pflegerischen Grund, weiss ich nicht. Jedenfalls war sie zeitlebens Rockträgerin gewesen und empfand Hosen für Frauen als unschicklich. Aus freiem Entscheid wären für sie Hosen nie in Frage gekommen.

 

Woran dachte sie ab 19 Uhr, wenn das Licht im Zimmer gelöscht wurde und sie trotz der Tablette nicht einschlafen konnte? An ihren Bauernhof, an Kühe, frisch gemähtes Gras, duftendes Heu, den Blattaustrieb im Mai, das spriessende Korn, den blühenden Garten im Sommer? An die Pferde, die sie jeden Morgen mit Hingabe striegelte? An eine unerfüllte Liebschaft in jungen Jahren?

 

Ich habe keine Ahnung. Ich ahne nur, dass es traurig sein kann, die letzten Jahre im Heim zu verbringen. Daran sind selten die Heime schuld. Es ist systembedingt. Es ist unsere Gesellschaft. Lina ist übrigens an einer verbreiteten Krankheit gestorben: nicht an Corona, sondern an schleichendem Lebensüberdruss. Sie wollte nicht mehr, deshalb wollte ihr Körper auch nicht mehr.