Tödliche Maskerade hinter Schlossmauern

Wunderbar zur verseuchten Gegenwart passt eine Geschichte des grossen amerikanischen Schriftstellers Edgar Allan Poe. Sie heisst «Die Maske des Roten Todes» und entstand vor knapp 180 Jahren. Schon allein der Titel dieser dunkel-romantischen Erzählung muss ein heutiges Publikum elektrisiert aufhorchen lassen, enthält er doch gleich zwei äusserst zugkräftige Elemente. «Roter Tod» deutet auf eine gefährliche Infektionskrankheit hin, und das Wort MASKE… Muss ich noch mehr sagen?

 

Also, bei dieser Geschichte geht es um eine Seuche, die in einem nicht näher bezeichneten Land umgeht. Gegen die Krankheit ist kein Kraut gewachsen. Deshalb lässt Prinz Prospero, der Regent des Landes, sein mit Vorräten gut versorgtes Schloss hermetisch abriegeln. Er und seine tausend Höflinge vertreiben sich hinter den schützenden Mauern mit allerlei Lustbarkeiten monatelang die Zeit, während unter den Menschen draussen der Rote Tod grausige Ernte hält.

 

Eines Tages veranstaltet der Prinz in einer geschmackvoll, aber auch exzentrisch eingerichteten Zimmerflucht einen Maskenball. Man tanzt, scherzt, wimmelt und wogt. Die ausgefallenen Maskenkostüme hat der Prinz selbst entworfen. Um Mitternacht mischt sich ein seltsamer Gast unter die Schar. Er ist gross, hager, majestätisch und sorgt mit seiner Verkleidung für Entsetzen: Er trägt eine Maske mit schrecklichen Blutbeulen und Leichentücher, die vor Blut starren. Die empörten Gäste reissen dem Fremden die Verkleidung vom Leib. Dabei zeigt sich, dass das Leichengewand und die Totenmaske bloss eine körperlose Gestalt umhüllen. Einer nach dem andern sinken die Gäste zu Boden und sterben innert Kürze am Roten Tod, der wie ein Dieb ins Schloss eingedrungen ist und sich unter die feiernde Schar gemischt hat.

 

Zwei Aspekte dieser Geschichte fallen im Zusammenhang mit unserer aktuellen Corona-Epidemie besonders auf. Erstens: Der Prinz und sein Hofstaat befinden sich in Quarantäne und halten dort immerhin ein halbes Jahr lang unbeschadet durch. Dann aber kommt die Krankheit doch. Sie lässt sich von verschlossenen Türen nicht aufhalten, sucht sich beharrlich ihren Weg. Mit Blick auf eine ausgeweitete Maskenpflicht, die aus epidemiologischen Gründen derzeit droht, dürfte es auf heutige Leser nicht gerade beruhigend wirken, dass Prospero und seine Leute ausgerechnet während einer Maskerade umkommen…

 

Zweitens hat Poe für diese Geschichte eine besonders schlimme Krankheit erfunden. Er schildert sie so: «Es begann mit qualvollen Schmerzen und plötzlichen Schwindelanfällen, dann traten starke Blutungen aus allen Poren ein, und das Ende war der Tod. (…) Die ganze Krankheit, vom ersten Anfall bis zum tödlichen Ausgang, währte nicht länger als eine halbe Stunde.» Zusammengefasst war der Rote Tod äusserst ansteckend, extrem aggressiv und unweigerlich tödlich. «Nie zuvor hatte eine Seuche so furchtbar und unbarmherzig gewütet.»

 

Sogleich stellt sich die Frage: Hätte Poe auch mit unserem Coronavirus den beabsichtigten literarischen Schaudereffekt erzielen können? Corona beziehungsweise die von diesem neuen Virus hervorgerufene Krankheit Covid-19 spielt doch in einer ähnlichen Liga wie der fiktive Rote Tod, wenn man der allgemeinen Aufregung und der exzessiven Berichterstattung der Medien glauben darf.

 

Die Antwort ist ernüchternd. Poe hätte zu seiner Zeit mit Corona keinen Staat machen können. Die Beschreibung des Schreckens wäre zu blass ausgefallen, nämlich so: «Eine Seuche ging durch das Land. Die Menschen, die sich angesteckt hatten, wurden müde, bekamen Fieber und begannen zu husten. Manche hüstelten auch nur. Die meisten wurden wieder gesund. Einige von ihnen bekamen jedoch eine Lungenentzündung. Diese konnte tödlich verlaufen, vor allem bei Alten und Schwachen.»

 

Der Chefredaktor des Magazins, in dem Poes neue Geschichte erscheinen sollte, hätte gesagt: «Nun, Mister Poe, diese Erzählung ist atmosphärisch wieder einmal eines Ihrer Meisterstücke. Aber die Krankheit? Da müssen Sie sich schon noch etwas Heftigeres einfallen lassen. Etwas viel Heftigeres. Was Sie beschreiben, ist Alltag, das wissen Sie doch selbst. Wir schlagen uns im richtigen Leben andauernd mit Pocken, Cholera, Typhus, Syphilis und anderen Geschichten herum. Die Leute sind einiges gewohnt, und viele sterben jung. Erschaffen Sie eine Krankheit, die unsere Leser wirklich beeindruckt. Verstehen Sie, was ich meine? Ich will in unserer Geschichte die totale Seuche, die ultimative Epidemie.»

 

So hätte der abgebrühte Chefredaktor gesprochen. Ein heutiger Chefredaktor spricht so nicht mehr, denn ihm genügt bereits ein halbwüchsiges Ding wie Covid-19, um allgemeinen Horror zu erzeugen. Die Zeiten haben sich geändert. Die Medizin hat riesige Fortschritte gemacht, und wir, wir reagieren auf Krankheit, Alter und Tod empfindlicher als auch schon. Beethoven zum Beispiel starb 1827 mit 57 Jahren als alter und schwer kranker Mann. Soweit man weiss, hat er dies als natürlich und normal hingenommen. Ich selber bin jetzt ebenfalls 57, fühle mich aber weder alt noch krank. Ich würde gerne noch ein Weilchen leben, ich geb’s zu. Ohne Poes fürchterliche Maske des Roten Todes im Genick – und vielleicht auch wieder einmal ohne die hysterische Maske von Covid-19 vor der Nase.