Ein äusserst bedrohlicher Mitreisender

Im Zug von Bern nach Burgdorf, etwas nach neun Uhr morgens. Im oberen Stock des zweitvordersten Wagens sitzt ein Mann allein in einem Abteil, sonst ist das Stockwerk leer. Ich setze mich eine Reihe weiter vorn in ein anderes Abteil, richte mich behaglich ein und schicke mich an, einen Zeitungsartikel zu lesen.

 

Da ertönen plötzlich unbeherrschte Laute aus dem unteren Stock, offenkundig aus dem Mund eines wütenden Mannes. Die Schreie und Flüche kommen näher. «Hoffentlich nicht», denke ich. «Hoffentlich kommt dieser Stunkmacher nicht hier herauf und stört.»

 

Selbstverständlich kommt er trotzdem. Er erscheint im Korridor, ein vielleicht 35-jähriger Typ, mittelgross, schlank und sehnig, mit hagerem Gesicht und eingefallenen Wangen, stechenden blauen Augen und rötlichbrauner Haut, aggressiv vorgeschobenem Unterkiefer, Baseballmütze, Trainingsanzug, Stöpseln in den Ohren und einer Dose Koffein-Limo in der Hand. Er strotzt nur so vor Angriffslust, sie umgibt ihn wie eine übel riechende Aura.

 

«Krank, das ist krank», ruft er wild auf Hochdeutsch mit undefinierbarem Akzent und setzt sich zum einsamen Fahrgast hinter mir, offensichtlich entschlossen, dieses willkürlich ausgewählte Opfer nach allen Regeln der Kunst zu provozieren. Kaum sitzt er, schreit er den anderen auch schon an: «Hey, Mann, wer bist du? Was machst du da? Was bist du für ein verdammtes Arschloch?»

 

Der Angebrüllte, dem Typus nach möglicherweise ein Mann aus dem Mittleren Osten, antwortet ebenfalls auf Hochdeutsch: «Nein, Kollege, nein, so nicht, so sprechen wir nicht miteinander.» Es sagt es ruhig und in moderater Lautstärke, aber in aller Klarheit. Darauf Mr. Aggro, immer noch aufgebracht schreiend: «He, was hast du gegen mich? Was hast du gegen mich? Kannst du mir das sagen? Was hast du gegen mich, he?»

 

Da steht der andere auf und sagt: «Ist gut jetzt. Lass mich einfach in Ruhe, sonst rufe ich die Polizei.» Er verlässt das Stockwerk, ich tue es ihm gleich. Wir landen beide im Triebwagen, er geht in den oberen Stock, ich bleibe unten.

 

Nun ist der Zug in voller Fahrt. Vorerst bleibt alles ruhig. Zwischen Hindelbank und Lyssach erscheint der Unruhestifter jedoch erneut auf der Bildfläche. Wie ein Polizist, der einen Ausbrecher sucht, blickt er streng in jedes Abteil und arbeitet sich entschlossen vor. Er verschwindet im oberen Stock. Kurz darauf hört man ihn brüllen, in äusserstem Zorn.

 

«Hier versteckst du dich also, du verdammtes Arschloch! Warum läufst du vor mir davon? Warum versteckst du dich hier? He? Warum machst du das? Was habe ich dir getan, Arschloch?» Dann hört man leise eine Antwort, dann wieder Gebrüll. So geht es eine Weile hin und her.

 

Fürchterlich. Zum Glück naht langsam Burgdorf, wo ich aussteigen muss beziehungsweise darf. Ich gehe in den Wartebereich bei der Wagentür, wo auch schon andere Leute zum Aussteigen bereitstehen. Zu uns gesellt sich der Mann, der von Mr. Aggro angeschrien worden ist. Er wirkt, kein Wunder, völlig entnervt. Und in seinem Kielwasser erscheint auch schon wieder Mr. Aggro höchstselbst, pöbelnd und tobend.

 

«Komm, hör einfach auf», sagt eine junge Frau zu ihm, und ein bebrillter Mann in mittlerem Alter versucht ein paar beruhigende Worte zu sprechen, dazu lächelt er freundlich. Das lässt den ausser Rand und Band Geratenen jedoch kalt. Er deutet auf die junge Frau und den freundlichen Mann und schreit: «Du Nazi! Und du auch Nazi!»

 

Der Zug verlangsamt die Fahrt, demnächst wird er anhalten. Die Lautsprecherdurchsage ist bereits erfolgt. Hier im Wartebereich kennt Mr. Aggro definitiv kein Halten mehr. Er rückt ganz nahe an den Mann mit der Brille heran und macht dumpfe Knurrgeräusche wie ein Doom-Metal-Sänger oder ein Raubtier.

 

Ich schaue mich um. Ausser mir und dem nach wie vor tapfer lächelnden Mann wären da noch der ursprünglich Angefeilte, der körperlich durchaus einen robusten Eindruck macht, und ein sehr schlanker junger Mann. Wenn es zum Äussersten käme, würden wir zu viert den Rabauken vielleicht bändigen können, denke ich. Und denke auch daran, dass man solche Interventionen lieber unterlässt, weil man nie weiss, ob der Gegner ein geübter Faustkämpfer ist oder plötzlich eine Waffe ins Spiel bringt.

 

Endlich, endlich, endlich, wir dürfen aussteigen. Gelobt sei das rettende Perron! Aber Mr. Aggro, der leider auch in Burgdorf aussteigt oder glaubt aussteigen zu müssen, lässt nicht locker. Mitten auf dem Perron schreit er den Brillenträger weiterhin an und teilt gegen ihn plötzlich auch noch heftige Fusstritte aus.

 

Nun also die längst befürchtete Eskalation. Ein paar von uns bleiben auf halbem Weg zur Unterführung stehen, unschlüssig, ob wir nun handfest eingreifen oder doch lieber nur einen Anruf tätigen sollen.

 

Da geht das Fenster des Lokführers auf, er streckt aus luftiger Höhe den Kopf heraus. Was er sagt, kann ich nicht hören, ich bin schon zu weit vorne bei der Treppe. Aber er ist immerhin eine Art höhere Instanz hier, die Fusstritte hören jedenfalls auf, das Geschrei ertönt auch nur noch halb so laut. Ob der Lokführer vor den Augen des Tobenden die Polizei benachrichtigt hat? Oder ein Wunder geschehen ist?

 

Das Perron leert sich nach und nach, Ruhe kehrt ein. Es hätte anders ausgehen können, schlimmer, womöglich viel schlimmer. Unterwegs nach Hause hänge ich meinen Gedanken nach.

 

Ich habe soeben einen Menschen erlebt, dem für längere Zeit weder mit Besonnenheit, Zureden noch Freundlichkeit beizukommen war. Dieser Berserker war derart blindwütig und aggressiv, dass er bestimmt auch mit vorgehaltener Pistole nicht zur Räson hätte gebracht werden können. Man hätte schon abdrücken müssen. Verrückt, wenn einem solche Gedanken kommen, nicht?

 

In solchen Situationen wäre man, trotz christlicher Nächsten- und Feindesliebe, gerne gross, muskulös und ausgebildet im Nahkampf. Nur so für alle Fälle. Ich und die meisten anderen sind aber nur harmlose und ungestählte Schreibtischmenschen, die einfach ihre Ruhe haben wollen. Und die angesichts eines Ausbruchs archaischer Wut sehnlichst hoffen, es möge sich zufällig gerade eine Patrouille im Zug befinden, bestehend aus zwei durchtrainierten, kräftigen Polizisten in blauem Kampfanzug und kugelsicherer Weste. Zufällig pflegt dann aber gerade keine Patrouille an Bord zu sein. Und in seiner Angst weiss man nicht, was jetzt zu tun wäre.