Mad Sherlock

Eine Leiche in meinem Keller, Donnerwetter und tatsächlich – die sprichwörtliche Leiche. Tot. Und im Keller. In einer Lache eingetrockneten Bluts, woran fette Fliegen sich laben. Woher die Leiche kommt respektive wie sie hierher gekommen ist – ich weiss es nicht, vermute ein Verbrechen, will schon den Gedanken, die Polizei herzubestellen, in die Tat umsetzen, als ein anderer Gedanke ersteren verlockend überlagert, nämlich, besser solle ich versuchen, kombinierend das Rätsel selber zu lösen. Einerseits der spannenden Herausforderung wegen, andererseits, um die Polizei, dannzumalen im Besitze der von mir präsentierten Tatsachen, davon zu entbinden, lärmend und störend in meine Wohnung einzudringen.

 

Ich setze mir eine karierte englische Hirschjägermütze auf – Sie wissen schon, mit Augen- und Nackenschirm sowie Ohrenklappen zum Aufbinden –, stopfe eine Meerschaumpfeife, entlocke meiner Violine ein paar krätzlich-süsse Arpeggios, richte mich in einem hochlehnigen Korbsessel ein und beginne zu kombinieren. Das heisst, ich würde damit beginnen, wenn ich über entsprechendes Material verfügen würde. Ich weiss aber so gut wie nichts.

 

Also hinunter in den Keller. Ich verjage die Fliegen, krabble meinerseits auf dem Leichnam emsiglich umher, durchwühle sein Haar, schlüpfe in seine Ohren, sondiere die Nasenlöcher, untersuche seine Taschen, vermesse seine Glieder, seinen Rumpf und seine Nägel, kratze an seiner Haut und berieche die geronnene Wunde im Bauch.

 

Männlich, ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt. Hellblaue, etwas abgewetzte Jeans, sauber, dazu weisse Tennisschuhe. Schwarzes Hemd. Haare: dunkel. Augen: dito. Die Taschen: zumeist leer. In einer findet sich ein Portemonnaie. Inhalt: Geld im Wert von 46 Franken 65 Rappen und ein Passfoto. Eine junge Frau mit langen dunkelblonden Haaren und einer modischen Brille, die ihr reizend zu Gesicht steht. Nun weiss ich Näheres, begebe mich wieder hinauf in die Stube, werfe mich in den Sessel – und setze meinen Verstand in Gang.

 

Im Keller habe ich herausgefunden – ich wusste es eigentlich bereits nach einem Blick auf sein Gesicht, wie man überhaupt einen Menschen am Gesicht besser erkennt als etwa an seinen Haaren oder Zehen, wie mir scheint –, dass der Leichnam jemand ist oder war, den ich kannte, sogar gut kannte.

 

Er wohnte in der Nachbarschaft und hatte mich hin und wieder besucht; wir hatten erbaulichen Müssiggang getrieben, getrunken und diskutiert, wobei ich nie so genau wusste, weshalb er eigentlich herkam. Er schien mich für einen aufsichtsbedürftigen Unbedarften zu halten oder etwas in dieser Art und erachtete es wohl als seine mitmenschliche Pflicht, mir seine beaufsichtigende Zuwendung zukommen zu lassen. Möglich sogar, dass er amtlich dazu bestellt war; ich glaube mich zu entsinnen, von ihm einmal eine diesen Schluss zulassende Äusserung gehört zu haben.

 

Auch die Brillenfrau auf dem Foto ist mir bekannt. Sie wohnt im Haus gleich nebenan und übt den Beruf einer Innendekorateurin aus. – So weit, so gut. Nun aber würde ein Rundgang durch meine Behausung nicht schaden. Um das Umfeld, in dem ich die Leiche gefunden habe, ordnend zu erfassen.

 

Dabei entdecke ich, dass auf dem Fensterbrett meines Schlafgemachs ein Feldstecher liegt, den ich zweifelsfrei als den meinen erkenne. Als ich ihn so liegen sehe, kommt mir auch gleich in den Sinn, dass ich ihn seit Längerem dazu benutze, die Wohnung der benachbarten Innendekorateurin auszuspähen, vornehmlich abends, wenn sie zu Hause ist.

 

Im Lauf dieser visuellen Anteilnahme habe ich unter anderem festgestellt, dass sie regelmässig vom jungen Mann, der nun in meinem Keller liegt, aufgesucht wurde – ich meine, als er noch keine Leiche war. Es waren dies Zweisamkeiten, die nicht selten in handfeste Zärtlichkeiten mündeten. Kurz – die beiden waren ein Liebespaar.

 

Nun ist es aber Zeit für eine kleine Pause. Um sie mir angenehm zu gestalten, setze ich mir eine Wasserpfeife auf und giesse statt Wasser Whisky in den Flüssigkeitsbehälter. Ich darf bei dieser Gelegenheit den unbeschreiblichen Genuss, den das Inhalieren von whiskygekühltem Balkantabak bereitet, nachhaltigst empfehlen.

 

Die Asche, die nach dem Rauchen übrig bleibt, wird in den Whisky geschüttet, die solchermassen gewürzte Flüssigkeit gut umgerührt und dann in einem Zug durch die Nase eingeschlürft. Ich verdanke die Kenntnis dieses Brauchs einem dänischen Marineoffizier. Es harmonisiert die Sinne und klärt den Geist.

 

Ich fühle mich der Lösung nahe. Jeder Nerv vibriert. Es gilt nur noch herauszufinden, in welchem Zustand der junge Mann zu mir ins Haus gelangt ist, ob bereits als Leiche oder noch lebend. Falls als Leiche, hätte ihn jemand heimlich hereingebracht, und auf ebendiesen Jemand müssten sich meine weiteren Überlegungen nun konzentrieren. Falls lebend, wäre der junge Mann allein gekommen, denn ich lasse nie mehr als eine Person zu mir herein.

 

Die erste Variante entfällt. Dass ein Unbekannter den jungen Mann tötete und dann heimlich bei mir im Keller ablegte, ist vollkommen undenkbar. Sie müssen nämlich wissen: Unbemerkt schleicht sich niemand in meine Behausung. Sämtliche Fenster sind mit Brettern vernagelt; die Tür ist dreifach verriegelt, Tag und Nacht. Ich schlafe nur wenig, und wenn, dann tagsüber. Die Nacht verbringe ich wachend. Es kommt niemand ungebeten herein, niemand, o nein, niemand. Niemand darf. Niemand soll.

 

Folglich musste der junge Mann lebend und allein in mein Domizil gelangt – und mehr noch, von mir hereingebeten worden sein. Ja, so ist es gewesen, genau so. Die Ereignisse des vorletzten Tages ziehen nun gestochen scharf an meinem inneren Auge vorbei.

 

Der junge Mann hat bei mir geklingelt. Ich liess ihn herein. Wir gingen in die Stube. Wir schwatzten. Der Wein ging aus. Ich sagte, im Keller habe es noch welchen, aber ich sei gerade nicht in der Stimmung hinunterzusteigen – ob er wohl so gut sei, schnell eine Flasche heraufzuholen. Er war so gut.

 

Plötzlich, aus völlig heiterem Himmel, erfasste mich eine entsetzliche Eifersuchtswoge. Er war ihr Liebhaber, wie ich aus eigener Anschauung wusste. Er durfte sie von Angesicht zu Angesicht sehen, mit ihr reden, sie berühren, ihr beiwohnen, der Nichtswürdige – während ich als ihr wahrer Verehrer dazu verdammt war, mich mit sehnsuchtsvollen Blicken aus dem Feldstecher zu begnügen, mit optischen Brosamen also – es war, wie es nicht sein durfte.

 

Ich nahm ein Messer, stieg ihm in den Keller nach und stiess es ihm, als er sich nach mir umwandte, in den Bauch. Er starb schnell. – Triumph und heureka, ich hab’s. Der Täter ist gefunden und gestellt.

 

Soll ich nun die Polizei benachrichtigen? Noch nicht. Ich möchte mit dem Mörder ein paar Tage allein verbringen. Mich in ihn hineinversetzen. Oder vielleicht hereinversetzen? Seine Psyche ertasten, seine Geheimnisse erlauschen… Eine einmalige Gelegenheit. Ich denke, dass ich mit ihm ganz gut zurande kommen werde. Wir sind uns nicht unsympathisch. Ich könnte für ihn kochen, er für mich essen. Und auch sonst zeichnen sich interessante Formen eines künftigen Zusammenlebens ab. Zu zweit lässt sich das Haus besser bewachen. Zum Beispiel, damit die Polizei nicht herein kann.

 

Was machen wir nun mit der Leiche? Im Keller lassen. Nur ja nicht beseitigen. Die meisten Mörder werden geschnappt, wenn sie versuchen, ihre Leiche loszuwerden. Eine Leiche so verschwinden zu lassen, dass niemand etwas merkt, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Also lassen wir sie da, wo sie ist, das fällt kaum auf. So denke ich jedenfalls. Ich werde zur Sicherheit noch den Mörder fragen.