Dem Berner sein Deutsch

Diesen Text habe ich für ein deutsches Literaturforum geschrieben. Er handelt vom berndeutschen Dialekt, meiner Muttersprache also, und davon, dass ich die Mundart, je älter ich werde, desto mehr auch als Schriftsprache entdecke und schätze. Was ich in meinen jungen Jahren niemals für möglich gehalten hätte.

Die gesprochene Sprache in der deutschen Schweiz ist alemannischer Dialekt in vielfältigen kantonalen, regionalen und lokalen Ausprägungen. Es gibt das Zürichdeutsch, das Baseldeutsch, das Bündnerdeutsch, das Walliserdeutsch und einige Idiome mehr. Und, landesweit besonders gerne gehört, das erdige Berndeutsch mit seinen volkstümlichen Redewendungen und dem speziellen Wortschatz.

Wir Berner sind auf unseren Dialekt besonders stolz. Dieses Dialektbewusstsein ist in den anderen Kantonen etwas weniger ausgeprägt. Entsprechend gibt es im Kanton Bern eine breite Bewegung, die den Dialekt auch als Literatursprache pflegt. Der Bestand an berndeutschen Theaterstücken, Liedtexten, Gedichten, Geschichten und Romanen ist beachtlich, und der Berndeutsch-Schriftsteller Pedro Lenz zählt zu den nationalen Literaturgrössen.

Als junger Mann hielt ich von berndeutscher Literatur rein gar nichts. Zum Schreiben haben wir die Schriftsprache, dachte ich. Das mit Helvetismen angereicherte Hochdeutsch, das ich so sehr liebte und immer noch liebe. Dialekttexte hingegen, die waren meiner Meinung nach höchstens zum Vorlesen in Altersheimen gut.

Heute, in etwas gereifterem Alter, sehe ich es anders. Der Dialekt hat auch in der schriftlichen Form seinen Platz. Das gilt für alle Dialekte, egal, wo sie zu Hause sind. Dialekt ist authentisch, hat urtümliche Ausdruckskraft, kommt aus dem Herzen. Er ist die eigentliche Muttersprache, während die Standardsprache vielleicht eher die Vatersprache ist.

Trotz allem bin ich kein Dialektliterat. Ab und an kommt es aber vor, dass ich einen meiner auf Hochdeutsch verfassten Texte ins Berndeutsche übersetze, zum Beispiel ein Theaterstück, das in Mundart aufgeführt werden soll. Ich kann nämlich, obwohl Dialektsprecher, Texte nur mit Mühe direkt auf Berndeutsch schreiben. Deshalb schreibe ich ein Theaterstück zuerst auf Hochdeutsch und übertrage es danach in meinen Dialekt.

Auch für Lesungen ziehe ich es immer öfter vor, meinen hochdeutschen Originaltext ins Berndeutsche zu übertragen, denn heute will das Publikum von der lesenden Person akzentfreies Bühnen- beziehungsweise Fernsehdeutsch hören. Da kann mein raues Helveto-Schuldeutsch nicht mithalten. Um mich nicht schämen zu müssen, lese ich lieber so, wie es mir angeboren ist: berndeutsch.

Spannend ist, was man beim Übersetzen vom Hoch- ins Berndeutsche so alles wahrnimmt und lernt. Zuallererst gilt es, orthografische Regeln zu definieren, denn verbindliche Berndeutsch-Regeln à la Duden gibt es nicht, nur ein paar allgemein anerkannte Grundsätze. Einer davon lautet, so phonetisch als möglich zu schreiben. Was aber bei all den lautlichen Spezialitäten, die unseren Dialekt kennzeichnen, kein einfaches Unterfangen ist.

Damit verbindet sich die Frage nach der Prägnanz des Wortbildes. Wörter sollten einigermassen rasch erkannt werden können, was am ehesten gelingt, wenn sich die Schreibung ein bisschen der dem Auge viel vertrauteren Hochschriftsprache angleicht. Deshalb verzichtet man bei der Verschriftlichung berndeutscher Wörter auf die charakteristische Vokalisierung des L, spricht es beim Vorlesen aber korrekt als U: Man schreibt also Milch, Zwilch, Knilch, Film, Helm, liest jedoch Miuch, Zwiuch, Kniuch, Fium, Heum – sofern man aus der Landschaft stammt und nicht aus der Oberschicht der Kantonshauptstadt.

Interessant ist auch die Erfahrung, dass sich ein hochdeutscher Text nicht eins zu eins in die Mundart übertragen lässt. Was sich auf Hochdeutsch in einem eleganten Nebensatz anmerken lässt, benötigt im Dialekt unter Umständen einen eigenständigen Satz. Und bisweilen tut man beim Übersetzen gut daran, manche Wörter, Bemerkungen oder Redewendungen einfach wegzulassen, weil sie auf Berndeutsch je nach Kontext falsch oder gekünstelt klingen.

Die überraschendste Erkenntnis aber, die ich beim Übersetzen ins Berndeutsche gewonnen habe, ist diese: Ich beherrsche sogar meinen eigenen Dialekt, also meine Muttersprache, nicht wirklich! Immer wieder ertappe ich mich bei Unsicherheiten in Wortschatz, Satzbau und Redewendungen. Und wenn ich bei meiner Frau, meinen Jungs und im Bekanntenkreis nachfrage, säe ich Zweifel, statt Sicherheit zu ernten. Vielleicht ist Sprache im Wesenskern eher ein intuitiver denn intellektueller Vorgang – vielleicht sollte man also sprechen, wie einem der Schnabel gewachsen ist, und schreiben, wie man spricht, ohne allzu viel darüber nachzudenken.

Das muss nicht zwingend in kunstloser sprachlicher Plattheit enden. Welche Bibelübersetzung ist die literarisch überzeugendste? Genau – die Lutherbibel. Und warum ist Martin Luthers Deutsch so kraftvoll, plastisch, lebensecht und auch poetisch? Weil er beim Übersetzen einem einfachen und einleuchtenden Grundsatz folgte. Der da wörtlich lautet: «Man muss die Mutter im Hause, die Kinder auf den Gassen und den einfachen Mann auf dem Markt fragen und ihnen aufs Maul schauen, wie sie reden, und entsprechend übersetzen. So verstehen sie es auch und merken, dass man Deutsch mit ihnen redet.»

 

Hoppla – jetzt bin ich aber abgeschweift und vom Dialekt plötzlich bei der Hochsprache und deren Handhabung gelandet! Denn das lutherische Sächsisch hat sich ja, dank der Bibelübersetzung, nach und nach als Hochsprache etabliert. Ist mein Gedankensprung schlimm? Nein, er ist logisch. Denn er zeigt, wie eng die beiden zusammenhängen, die Muttersprache und die Vatersprache.

Kostprobe: Dr Geischt im Schtägehuus

E jungi Frou us em Ämmetal – mir säge re jitz eifach mal Corinne – het mer einisch verzellt, dass si d’ Gab heig, übersinnlechi Sache z’ ghöre u z’ gesh. Scho ihri Grossmueter heig das gha; das heig sech du uf ihri Tochter u schpäter o uf seie sälber, auso uf d’ Corinne, vererbt. Für mer z’ zeige, wie me sech das genau söll vorschtelle, hett si mer es Byschpiel verzellt.

Einisch sig ihre Maa e Woche lang gschäftlech ungerwägs gsy. Si sig mit em chlyne Bueb allei deheim b’blibe. Y dere Wuche syg ere mehrmals dr Schwigerätti, wo ir e angere Gägend gläbt hett, als Geischt erschine. Einisch heig si ne am heiterhälle Tag, wo ds Bébé gschlafe heig, im Schtägehuus gseh, u zwöi oder drü Mal heig er sech z’ Nacht im Schlafzimmer z’zeigt. Si heig derby de nid öppe gschlaafe u t’tröimt; si sig hällwach gsy. Genauso plötzlech, wie sech die gschpängschtischi Gschalt zeigt heig, syg si aube o wider verschwunde. Gseit heig die Erschynig nüt.

D’ Corinne u ihre Schwigervatter hei sech nid bsungers guet verschtange. Es paar Wuche vor sym geischterhafte Erschyne hett er ihre es Schaffäll für e Chly gschänkt, für dass ers im Schtubewage gäng schön warm heig. Di jungi Frou hett das Fäll aber no grad am glyche Tag im Eschterig versorget. Si hett gfunge, dass es schtinki, u im Übrige hett si das Gschänk vo ihrem Schwigervatter eifach wölle us em Wäg ha.

Schpäter du, wo re dr Schwigervatter erschine isch, isch ere das Fäll wieder y Sinn cho, u ds schlächte Gwüsse hett se aafa plaage. Si hett das Fell gholt, hetts gwäsche u ‘s am Bébé i Schtubewage gleit. Drufabe isch ere dr Schwigerätti es letschts Mal erschine. Er hett glächlet; d’ Corinne hett das Lächle als Zeiche vor Versöhnig düttet. Si hett plötzlech ds Gfüehl gha, jitz syg zwüsche ihne beidne alls ir Ornig.

Wo ihre Maa vor Gschäftsreis isch zrüggcho, hett er ihre gseit, dass er ungerwägs d’ Nachricht vom Tod vo sym Vatter heig übercho. Wie sech du zeigt hett, isch er dr Corinne erschine, wo n-er im Schtärbe glägen isch.

Das isch nid z’ erschte Mal gsy, wo die jungi Frou sörigi Sache hett gseh. Si chönn allerdings fasch mit niemerem drüber rede, hett si mer gseit. Die meischte glouby ihre sowieso kes Wort.

Übersetzung: Der Geist im Treppenhaus

Eine junge Frau aus dem Emmental – nennen wir sie Corinne – erzählte mir einmal, sie habe die Gabe, Übersinnliches zu hören und zu sehen. Schon ihre Grossmutter habe «es» gehabt; das habe sich dann auf die Tochter und später auch auf sie selbst, also auf Corinne, vererbt. Damit ich mir darunter etwas vorstellen konnte, erzählte sie mir eine Episode.

Es geschah, als sich ihr Mann auf einer einwöchigen Geschäftsreise befand. Sie selbst blieb mit dem Kleinen allein zu Hause. In dieser Woche sei ihr mehrmals der in einer anderen Gegend lebende Schwiegervater als Geist erschienen. Einmal habe sie ihn tagsüber, als ihr Söhnchen geschlafen habe, im Treppenhaus gesehen, und zwei- oder dreimal sei er nachts im Schlafzimmer aufgetaucht. Sie habe dabei nicht etwa geschlafen und geträumt, sondern sei hellwach gewesen. Genauso unvermittelt, wie sich die gespenstische Gestalt gezeigt habe, sei sie jeweils auch wieder verschwunden. Gesagt habe die Erscheinung nichts.

Schwiegertochter und Schwiegervater konnten sich nicht besonders leiden. Mehrere Wochen vor seinem geisterhaften Erscheinen hatte er ihr ein Schaffell für den Kleinen geschenkt, damit er es im Stubenwagen schön warm habe. Die Schwiegertochter jedoch verstaute das Fell noch am selben Tag auf dem Dachboden. Sie fand, dass es stinke, und im Übrigen wollte sie das Geschenk ihres Schwiegervaters ganz einfach aus dem Weg haben.

Später, als ihr der Schwiegervater erschien, kam ihr das Fell wieder in den Sinn. In ihr regte sich ein schlechtes Gewissen. Sie holte das Fell, wusch es und legte es ihrem Kleinen in den Stubenwagen. Daraufhin erschien ihr der Schwiegervater zum letzten Mal. Er lächelte, und Corinne deutete dieses Lächeln als Zeichen der Versöhnung. Auf einmal hatte sie das Gefühl, dass zwischen ihnen beiden nun alles in Ordnung war.

Als ihr Mann von der Geschäftsreise zurückkam, sagte er ihr, dass er unterwegs die Nachricht vom Tod seines Vaters erhalten habe. Es zeigte sich, dass dieser seiner Schwiegertochter erschienen war, als er im Sterben lag.

Das war nicht das erste Mal, dass Corinne Erscheinungen hatte. Sie könne allerdings praktisch mit niemandem über diese Dinge sprechen, sagte sie mir. Die meisten glaubten ihr von alledem kein Wort.

 

© Hans Herrmann

Geschrieben im April 2024